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Das Musikfernsehen ist tot

Warum das Genre selbst im Internet keine Chance mehr hat

Prof. Dr. Marcus S. Kleiner, Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der SRH Hochschule der populären Künste Berlin Quelle: Marvin Böhm Prof. Dr. Marcus S. Kleiner Studiengangleiter SRH Hochschule der populären Künste Berlin 17.03.2017
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Uwe Schimunek
Freier Journalist
Meinungsbarometer.info
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"Das Musikfernsehen ist tot und lebt nur noch als Nostalgie-Zombie in der Erinnerung derjenigen, die mit dem Musikfernsehen aufgewachsen sind, oder wird als Retro-Phänomen medial immer wieder zu Tode recycelt." Das sagt Prof. Dr. Marcus S. Kleiner, Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der SRH Hochschule der populären Künste Berlin. Keine Chance also für das Comeback von MTV? Für Kleiner ist klar, das die Mediennutzung junger Leute heute einer Dauer-Skip-Mentalität entspricht, wie sie etwa von YouTube erfolgreich bedient wird. 







Zwanzig Jahre nach dem Deutschland-Start ist MTV wieder kostenlos zu sehen – als Livestream im Netz. Kommt das gute alte Musik-Fernsehen zurück? (ggf.: ist MTV überhaupt noch Musik-Fernsehen mit all den Serien vor allem am Nachmittag und Abend?)
MTV ist ursprünglich mit dem Anspruch angetreten, Popmusik im Medium Musikvideo zu visualisieren und dem Fernsehen ein neues Mediengenre hinzuzufügen, das traditionelle TV-Sehgewohnheiten verändert. Nach der Erfolgsgeschichte des Musikfernsehens und seinem Einzug in die alltägliche Mediennutzung verschwinden seit 2008/9 zunehmend musikalische Medienangebote v.a. zugunsten von Klingeltonwerbung und nicht-musikzentrierten Serien und Shows. Der Anstieg der nicht-musikzentrierten Serien und Showformate zeigt, dass sich die Musikfernsehsender auf dem TV-Markt neu orientieren. Sie entwickeln sich vom traditionellen Musikfernsehen mit wechselnden Genres aber generell starker Konzentration auf Popmusik hin zu einem Jugendfernsehen mit einer Vielzahl von Programmformaten, bei denen Musikvideos keine herausragende Rolle mehr spielen. Popmusik wird in diesen jugendorientierten Programmformaten funktional eingesetzt, z.B. zur Emotionalisierung oder auch als purer Hintergrund. Dieser Strukturwandel des Musikfernsehens, einhergehend mit der Digitalisierung der Medien(-distribution), führt dazu, dass das klassische Musikfernsehen sich zunehmend aus dem Fernsehen zurückzieht und sich v.a. in den Bereichen des digitalen Fernsehens bzw. Pay-TV, im Internet und Mobilfunk engagiert, um für die Fernseh- und Musikwirtschaft wieder ökonomisch attraktiv zu werden. Das Musikfernsehen im Pay-TV oder im Internet ist allerdings bisher kein Erfolgsmodell und wird es auch in Zukunft nicht mehr sein.

DAS MUSIKFERNSEHEN KOMMT ALSO NICHT WIEDER – weder durch den MTV-Livestream noch durch ein anderes Musikfernseh-Angebot im (digitalen) Fernsehen oder Internet. DAS MUSIKFERNSEHEN IST TOT und lebt nur noch als Nostalgie-Zombie in der Erinnerung derjenigen, die mit dem Musikfernsehen aufgewachsen sind, oder wird als Retro-Phänomen medial immer wieder zu Tode recycelt. DER TOD IST ABER GAR NICHT SO SCHLIMM, denn er offenbart die Ideen- und Innovationslosigkeit hinsichtlich der Verbindung von Musik und Filmangeboten im Musikfernsehn in den letzten 10 Jahren. Vielleicht wird das zu einer Herausforderung für die Musik- und Unterhaltungsindustrie, um spätestens am 01. August 2081 ein revolutionäres neues Musikfernseh-Konzept zu präsentieren.

Mit der Aufschaltung des Livestreams will sich MTV nach eigenen Angaben wieder mehr ins Bewusstsein der jungen Zielgruppe spielen. Inwieweit ist ein Livestream im Internet dafür das geeignete Mittel?
Das Musikfernsehen ist ein Auslaufmodell. Ein Livestream wird daran nichts ändern, denn durch diesen wird lediglich klassisches Musikfernsehen kostenlos im Internet präsentiert. Die dadurch erhoffte Re-Kreation der spezifischen MTV-Lebenswelt, die MTV in den 1980er bis Mitte der 2000er Jahre jugendkulturell so erfolgreich gemacht hat, wird es nicht mehr geben. Neue jugendliche Zielgruppen werden dadurch nicht gewonnen. Genau so wenig wird MTV (weiterhin) das Lebensgefühl junger Leute beeinflussen können noch eine genuine Lebenshaltung vermitteln. Ein linearer Livestream ist zudem zeitintensiv und erfordert eine bestimmte Verweildauer, um die präsentierten Inhalte als unterhaltsam oder sinnstiftend zu erleben. Live-Angebote im Internet sind zumeist als Kurzformen bzw. kurzweilige Surf-Stationen erfolgreich, wie etwa Facebook-Live zeigt. MTV hätte daher mehr Zeit in die Kreation von eigensinnigen Internet-Musikangeboten investieren sollen, um den Anschluss an das digitale Zeitalter nicht zu verpassen.

Bei jungen Leuten gehören Musik-Videoclips nach aktuellen Untersuchungen zu den beliebten Inhalten auf Videoplattformen wie Youtube. Wie kann ein linearer Stream gegen solche Plattformen ankommen?
Gar nicht. Dadurch werden gerade im Gegenteil die aktuellen Mediennutzungsgewohnheiten junger Leute ignoriert. Diese sind mobil und mehrkanalig, unaufmerksam und ungeduldig, wechselnd und wandlungssüchtig. Die aktuelle Mediennutzung junger Leute entspricht einer DAUER-SKIP-MENTALITÄT, wie sie etwa von YouTube erfolgreich bedient wird. Ein linearer Stream kann eventuell die ältere Zielgruppe der MTV-Nostalgie-Zombies anziehen. Das Musikfernsehen hat sich im Internet nicht in vergleichbarer Weise wie das Musikfernsehen im Fernsehen durchgesetzt – weder bei den Rezipienten noch bei der Musik-, Fernseh- und Medienwirtschaft. Ganz im Unterschied zur immer weiter zunehmenden Bedeutung von Musik-Videos im Internet. Der Trend geht gegenwärtig zu mehr Film im Internet. Auch die Musikindustrie erkennt seit einiger Zeit diesen Trend und fängt wieder an, in Musikvideoproduktionen zu investieren. Musikvideos brauchen kein Musikfernsehen mehr, um sich erfolgreich zu verbreiten, sondern die Rolle des Musikfernsehens wurde hierbei von den Internet-Videoplattformen und zunehmend auch von den Musik-Streaming-Diensten übernommen. Mit dem Resultat: INTERNET KILLS THE TV-STAR.

MTV gilt als Vorreiter einer globalen Popkultur. Wie wird MTV heute seinem selbst formulierten Anspruch als "Symbol der Musik- und Popkultur" gerecht?
MTV wird diesem Anspruch nicht mehr gerecht. Und muss es auch nicht mehr. MTV hat die Musik- und Popkultur über zwei Jahrzehnte nachhaltig geprägt. Das ist das große Verdienst von MTV. MUT ZUM RUHESTAND und eine große Abschiedsparty – das würde ich mir von MTV gegenwärtig wünschen. Popkulturen als Innovationskulturen leben von ihrer Wandlungssensibilität und nicht vom eigensinnigen Festhalten am Altbewährten. Nur so können Popkulturen auch weiterhin Labore für eine zukünftige Gesellschaft sein.

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