Wie bewerten Sie Stand und Perspektiven für die Mobilität im ländlichen Raum, gerade im Hinblick auf viele wegfallende ÖPNV-Angebote?
Im Unterschied zu einer Großstadt befindet sich in einem Dorf als relativ kleiner Siedlung nur ein begrenzter Teil der lebensnotwendigen Dinge und Leistungen vor Ort. Also bestimmt die überörtliche Erreichbarkeit durch Mobilität maßgeblich das Niveau der ländlichen Lebensverhältnisse. Von dem Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und Land ausgehend, reicht der Stand der Mobilität im ländlichen Raum bei weitem nicht aus; Wegfall von ÖPNV verschlechtert in der Regel die Lebensverhältnisse. Lebendige ländliche Räume und Dörfer erfordern in der Perspektive einen innovativen, ganzheitlichen und regional differenzierten Ausbau der Mobilität. Davon sind wir heute noch weit entfernt.
Welche Forderungen haben Sie als Bundesverband?
Die europäische Dorfbewegung hat viel dazu beigetragen, dass sich im öffentlichen Bewusstsein - entgegen manchen überholten Vorstellungen von einer universalen Urbanisierung der Gesellschaft- weitgehend die Erkenntnis durchgesetzt hat: das Dorf ist ebenso wie die Stadt eine dauerhafte, zukunftsfähige sozialräumliche Existenzform. Davon sollte auch die Planung und Gestaltung der Erreichbarkeitsmobilität ausgehen. Sie soll die nachhaltige Entwicklung der Dörfer stärken und helfen, dem demografischen Wandel aktiv zu begegnen.
Dörfliche Siedlungen sind lokale Gemeinschaften ihrer Bewohner. Einerseits sind die Dorfgemeinschaften in hohem Maß selbst verantwortlich für die Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse, so auch für die Mobilität: Individuelle Motorisierung, Carsharing wie auch durch die Gemeinschaft organisierte Formen wie z. B. Fahrgemeinschaften und organisiertes Mitnehmen sind hierfür gute Praxis. Dorfbewegung fördert solch bürgerschaftliches Engagement und den Austausch der Erfahrungen darüber. Andererseits will die Dorfbewegung die „Stimme der Dörfer“ stärken, um berechtigte Forderungen an Staat und Kommunen u. a. auch hinsichtlich eines Systems von Mobilität zu stellen, das weiter ausgebaut und nicht eingeschränkt wird; in dem mehr unterschiedliche Modelle erprobt werden, die den ländlichen Bedingungen entsprechen und zukunftsfähig sind.
Wie könnten neue Mobilitätskonzepte im ländlichen Raum aussehen, damit ländliche Regionen nicht gegenüber den Städten abgehängt werden?
Es gibt eine Reihe von Studien, insbesondere über integrierte Mobilitätskonzepte, und Erprobungen in Modellregionen, die differenzierte Wege zeigen. Ich beschränke meine Antwort darauf, aus soziologischer Sicht einige Kriterien für neue Konzepte zu nennen.
Sie sollten auf eine „Planung von unten“, von den Dörfern her orientieren, was vielfach ein Umdenken erfordert: Dorfgemeinschaften haben auch hinsichtlich der Mobilitätsgestaltung ein Recht auf Selbstbestimmung und Mitbestimmung und sie haben Potenziale für deren Mitgestaltung.
Solche Konzepte sollten sowohl die Mobilitätsbedürfnisse der verschiedenen demografischen und sozialen Gruppen als auch den demografischen Wandel berücksichtigen: die Attraktivität des Dorflebens durch überörtliche Erreichbarkeit für diejenigen fördern, die im Dorf wohnen bleiben wollen (Bildungs- und Arbeitspendeln statt Abwanderung; Alterswohnsitz, weil medizinische Versorgung gut erreichbar; Freizeitmobilität), und geeignet sein, Zuzugsbereitschaft zu bestärken.
Sie müssen die lokale und regionale Differenziertheit, darunter die speziellen Siedlungs- und Kommunalstrukturen, Großstadtnähe, aber z. B. auch unterschiedliche Traditionen und Akzeptanz von Mobilitätsarten und interkommunaler Kooperation in den verschiedenen ländlichen Räumen berücksichtigen.
Wie ist Ihre Einschätzung zu integrierten Mobilitätskonzepten auf dem Land?
Sie sind meiner Meinung nach ein notwendiger und guter Weg, um den Besonderheiten ländlicher Räume gerecht zu werden. Traditionell sind in ländlichen Regionen einerseits der ÖPNV, eingeschlossen die teilweise öffentliche Nutzung der Schulbusse, andererseits die individuelle Motorisierung wichtige Säulen der Mobilität. Jedoch reicht der ÖPNV in der Regel nicht für die Mobilitätsbedürfnisse aus; insbesondere nicht für derjenigen, die nicht über individuelle Motorisierung als Alternative verfügen. Deshalb spielen solche flexiblen Formen, die nicht an feste Zeiten und Routen oder große Mengen von Mitfahrern gebunden sind, eine zunehmende Rolle (Bürgerbus, Rufbus, Shuttleangebote, Sammeltaxi, usw.). Gerade in Dörfern sind solche individuellen und kollektiven bürgerschaftliche Initiativen wie solidarische Mitfahrangebote, organisierte „per Anhalter“-Systeme, Fahrgemeinschaften dafür besonders geeignet. Konzepte integrierter Mobilität zielen darauf, regional differenziert durch weitgehende Ganzheitlichkeit und Kombination der Möglichkeiten weitgehende Vielfalt der Mobilitätsbedürfnisse zu befriedigen
Welchen Chancen bietet ggf. der autonome on demand-Verkehr?
Verschiedene Mobilitätsarten, die auf Abruf oder Anforderung zeitnah bereitstehen (Rufbusse, Ruftaxi), haben sich besonders auf dem Lande bewährt, weil sie - sofern die Kapazität ausreicht - für Leistungen bereit sind, die der ÖPNV nicht erbringen kann: jederzeit nach Zeitpunkt und Route flexibel individuelle Mobilitätsbedürfnisse zu befriedigen.
Selbstfahrende Fahrzeuge sind per se schon eine Art Revolution des Verkehrswesens. Werden sie einem ländlichen on demand – System eingesetzt, kann dieses zu einer tragenden Säule der Mobilität werden. Erstens, weil es für alle Personen, die keine Begleitperson brauchen, jegliche Mobilitätsbedürfnisse befriedigen kann: Von Arbeitspendeln bis Erreichbarkeit von überörtlichen Freizeitzielen. Zweitens, weil denkbar ist, dass es partiell ÖPNV und individuelle Motorisierung ersetzen könnte. Allerdings ist für ein Funktionieren neben vielen anderen Bedingungen die oft versprochene, aber bisher ungenügende Aufrüstung des Internets überall auf dem Lande erforderlich.
Wie sieht Ihre persönliche Zukunftsvision von der Mobilität im ländlichen Raum aus und was gehört alles dazu?
Meine Vision von der Zukunft der Mobilität im ländlichen Raum ist von der Wunschvorstellung geprägt, dass ihre Ausgestaltung nicht von „marktwirtschaftlichen Zwängen“ und Haushaltsdefiziten bestimmt wird, sondern von den Bedürfnissen der Landbevölkerung, mittels Mobilität gleiche Chancen für die Erreichbarkeit der notwendigen Lebensbedingungen zu haben wie Stadtbewohner. Das Mobilitätssystem soll dazu beitragen, dass alle, die im Dorf wohnen bleiben möchten und Zuzugswillige das auch realisieren können; dass es den Tourismus und Ausflüge aufs Land begünstigt sowie Stadt und Land miteinander sozial und kulturell verbindet.
Dazu gehört ein den jeweiligen regionalen Bedingungen angepasstes integriertes Mobilitätssystem, dessen Hauptsäulen – aufeinander abgestimmt – der ÖPNV, ein hauptsächlich mit autonomen Elektrofahrzeugen ausgestattetes on demand -System und die bürgerschaftlichen Mobilitätsinitiativen (Fahrgemeinschaften, usw.) sind. Ergänzt werden müsste es durch erschwingliche Ruftaxis oder Ähnliches für Personen, die nicht ohne Begleitung fahren können. Und schließlich gehört dazu ein gut funktionierendes digitalisiertes System der Information, Koordinierung und Reaktionsfähigkeit auf Korrekturbedürfnisse und Unvorhergesehenes, das Anbieter, Akteure und Konsumenten verbindet.