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Wenn Songs Beine kriegen

Wie Algorithmen über den Lebenszyklus von Musik entscheiden

Christof Ellinghaus, Vorstandsvorsitzender VUT- Verband unabhängiger Musikunternehmen e.V. Quelle: Manfred Klimek Christof Ellinghaus Vorstandsvorsitzender VUT- Verband unabhängiger Musikunternehmen 06.07.2017
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Uwe Schimunek
Freier Journalist
Meinungsbarometer.info
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Algorithmen können dafür sorgen, dass Songs „Beine kriegen", also ans Laufen kommen können. Das sagt Christof Ellinghaus, Vorstandsvorsitzender VUT- Verband unabhängiger Musikunternehmen. Im Umkehrschluss kann das natürlich auch den Lebenszyklus eines Songs dramatisch verkürzen. Werden schon bald die Musikredaktionen der klassischen Radiosender obsolet?







Zunehmend entscheiden Algorithmen bei Streaming- oder Download-Portalen über die Platzierung von Songs. Was bedeutet das für die Vermarktung von Musik?
Es bedeutet, dass Songs „Beine kriegen“ können, also ans Laufen kommen können, weil die Algorithmen dafür sorgen. Im Umkehrschluss kann das natürlich auch den Lebenszyklus eines Songs dramatisch verkürzen. Wichtiger ist aber die Tatsache, dass heutzutage die Datenlage über Wohl und Weh eines Songs entscheiden kann. Wenn zum Beispiel das Redaktionsteam eines Streamingdienstes vollkommen von einer Band oder auch nur einem Song überzeugt ist, dann entscheidet letztlich trotzdem noch die Datenlage. Wie hoch oder niedrig ist die „Skip Rate“, also wie oft springt der Hörer oder die Hörerin zum nächsten Song und wann im Song. Gleiches gilt auch für die „Save Rate“, also wie oft wird der Song geladen. Diese Daten sorgen für Gedeih und Verderb. 

Das größere Problem ist, dass die Streamingdienste scheinbar kein wirkliches Interesse am Künstleraufbau haben. Es geht hier nur um Songs bzw. Tracks. Nicht um Alben, nicht um Karrieren, nicht um Aufbau. Der Song ist das Einzige, was zählt. Die Playlist ist der heilige Gral, der benötigt eben Songs und keine Alben. Früher hatten wir mal die Idee, dass das Internet die Musikmärkte demokratisiert: Jetzt hat jeder eine Chance. Diese idealistische Vorstellung ist mittlerweile leider überholt. Um bei den Streamingdiensten eine Rolle zu spielen, muss man seine Songs ebenso „pluggen“ wie früher, als man noch bei MTV auf Rotation kommen wollte. Oder wie heute immer noch, wenn man versucht, den Radioredakteur davon zu überzeugen, dass exakt dieser tolle Song auf seinem Sender laufen sollte. Nur um sich dann Sätze anhören zu müssen wie, „das muss mir aber erstmal jemand warmspielen“ (Übersetzung: Wenn die anderen Radios den Song rotieren, dann steige ich eventuell auch ein). Oder auch so etwas wie, „das passt nicht in unser Programm, das wollen unsere Hörer nicht hören“. Ähnlich muss man sich nun die Hürden beim Streaming vorstellen. Um auf die Playlisten zu kommen, muss man das redaktionelle Team des Streamingdienstes überzeugen. Kennst Du dort niemanden, bist Du geliefert. Die redaktionellen Teams sind die neuen Entscheider über Wohl und Weh, auch Gatekeeper genannt.

Welche Rolle spielen offene Playlists von Fans für Fans und ähnliches?
Die Streamingdienste sind sehr daran interessiert, dass ihre hauseigenen Playlisten das Geschehen auf ihrem Dienst dominieren. Das Schlagwort vom eigenen „Ecosystem“ macht hier immer noch die Runde. Natürlich gibt es relativ groß gewachsene Playlisten von Drittanbietern oder einfach von Musikfans, die eine große Schar „Follower“ haben. Aber Studien haben ergeben, dass z.B. bei Spotify weit über 90 Prozent des Playlisten-Verkehrs aus den hauseigenen Listen generiert wird. Dennoch, das Playlisting von Fans für Fans ist ein integraler Bestandteil der Strategien. Jahrelang war den Venture Capital-Firmen, die ja die Anlaufverluste der Streamingdienste finanzieren, das Schlagwort „social“ wichtiger als alles andere. Streamingdienste sollten so „social“ wie möglich werden. Das galt als die goldene Gans. Ob das jetzt noch so ist, kann ich nicht beurteilen.

Auf Streaming- oder Download-Plattformen gibt es im Gegensatz zum Verkaufsregal praktisch kein Platzproblem. Was bedeutet die ständige Verfügbarkeit des Repertoires für die Vermarktung von Musik?
Tja, das ist wohl eine eigene Studie wert. Wenn alles immerzu verfügbar ist, führt das gerne zu Überforderung bei den Hörerinnen und Hörern. Folgerichtig begeben sie sich in die Hände der redaktionellen Teams und somit der Playlisten. Zudem spielt die Theorie vom „Long Tail“ in der Streamingwelt durchaus eine Rolle. Firmen, die über tiefe Kataloge verfügen, stehen plötzlich mit einem fantastischen Grundeinkommen da. Für die Vermarktung von Musik bedeutet das erstmal, dass man nicht wie im Media Markt über begrenzte Regalflächen verfügt. Früher war das ja ein riesen Thema. Kriege ich meine CD überhaupt bei Saturn oder in anderen Outlets platziert? Diese Frage, dieser Wettbewerb, der stellt sich nicht mehr. Allerdings gibt es nun eben andere Gatekeeper. 

Welche Rolle spielen die Musikredaktionen der klassischen Radiosender aus Ihrer Sicht heute noch?
Generell sieht man ja, dass im klassischen Hitradio die gleichen Songs rauf und runter laufen, die dann auch massiv gestreamt werden. Da herrscht also großer Einklang.  Beide – Radiosender und Streamingdienste - verfolgen im Kern ein ähnliches Ziel: Die Musikredakteure der Radiosender wollen relativ ausschließlich vermeiden, dass die Hörerinnen und Hörer in den Werbepausen ab- oder umschalten. Dazu machen sie Umfragen auf der Straße und in den Fußgängerzonen. Testet ein Song hier nicht befriedigend, wird er sofort von der Playlist des betreffenden Radiosenders verbannt. Risikofreude? Abenteuerliches? Das ist nicht gewünscht. Nur die Hörerinnen und Hörer nicht verprellen.

Die redaktionellen Teams der Streamingdienste verfolgen ähnliche Ziele:  Die Userinnen und User sollen im „Ecosystem“ bleiben. Also wird auch hier formatiert. Und natürlich sind die Top-Charts-Pop-Playlisten die erfolgreichsten. Die ebenso falsche Annahme, dass die Hörerinnen und Hörer nichts „anstrengendes“ wollen, wird auch hier zunehmend zum Dogma. Skip-Rates und Save-Rates sind also quasi das digitale Äquivalent der Radioumfragen in den Fußgängerzonen.

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